Teil 1
Kurz vor 5 uhr morgens war Melina aufgewacht. Eine weitere ruhelose Nacht, qualvoll zäh erlitten, war überstanden. Unterschiedliche Fragmente zahlloser Träume lagen ihr, schwer wie Leichen Torsi, auf Geist und Seele. Ihr Mund war trocken, der salzig blutige Geschmack im Mund erzeugte einen verhasst bekannten Würgereiz. Die Nacken- und Rückenmuskulatur war förmlich versteinert und die Sehnen schmerzten ihr bis in die Fingerspitzen. Ihr Kiefer fühlte sich an wie nach einem verlorenen Boxkampf, die Kopfschmerzen ergänzten diese Annahme mit entsprechendem Nachdruck
Teil 2
Obwohl es deutlich zu früh war, um aufzustehen, konnte sie dennoch nicht liegen bleiben. Sie wäre sonst noch tiefer in die Geräusche ihres Körpers eingedrungen.
Dieser Prozess hat in den letzten Jahren nie zu gewinnbringenden Ergebnissen geführt, also erhob sie sich mit einer Trägheit, als müsste sie alles Leid der Welt auf ihrer Seele tragen.
Der Griff zum Mobiltelefon tauchte ihre direkte Umgebung in bläuliches Licht.Dabei erkannte sie die nicht zu übersehenden Flecken auf ihrem Kopfkissenbezug. Bei genauer Betrachtung stellte sich heraus, dass es sich offensichtlich um getrocknetes Blut handeln musste.
Sie begab sich schleppend ins Badezimmer, um dort einen Blick in den Spiegel zu riskieren. Bereits seit einigen Jahren konnte sie dem Bild dort keinerlei positive Energie mehr abgewinnen. Ihre natürliche Schönheit und ihre damals oft gelobte Ausstrahlung, war von einer Mischung aus gräulichem Hautgewebe und tiefschwarzen Augenringen kompensiert worden. Nachdem sie sich auf die Suche nach dem Ursprung des Blutes gemacht hatte, konnte sie relativ schnell ausmachen, woher es wohl die gekommen sein mochte. Fand sie doch auf dem Nasenrücken, direkt zwischen beiden Augen, ebenfalls Hinweise auf getrocknetes Blut, das sich an beiden Nasenflügeln einen Weg bis über die Lippen gebahnt hatte. Als sie sich jedoch sorgfältig von diesen Spuren befreit hatte, konnte sie dort nirgends irgendeine äußere Verletzung ausfindig machen. Sie ging davon aus, dass es Nasenbluten gewesen sein musste, das sich durch den Druck auf das Kissen irgendwie im Gesicht verteilt hatte.
Teil 3
Bevor sie unter die Dusche sprang wagte sie einen Blick auf die geistigen Ergüsse, ihrer mittlerweile zunehmend verhassten Umwelt, die sich im Laufe der Nacht auf den verschiedenen Apps und Social Media Plattformen angesammelt hatten. Bereits nach wenigen Minuten war ihre ohnehin schlechte Stimmung, komplett in einer Neben-Katakombe ihrer Depression verschwunden. Sie hasste sich dafür, sich von diesen Systemen beeinflussen zu lassen. Ihre eigenen Aktivitäten dort hatten sich mittlerweile auf ein absolutes Minimum reduziert, dennoch brachten sie bereits wenige, nicht erwünschte Informationen völlig an ihre Belastungsgrenzen. Mehr denn je wünschte sie sich, es endlich zu schaffen, wieder mehr in der realen Welt zu leben, anstatt zu viel Zeit in der Digitalisierung zu verbringen. Als sie nach 25 Minuten ihr Handy zum ersten Mal für diesen Tag angewidert und wütend auf sich selbst in die Ecke warf, wusste sie, dass es Zeit war, einen weiteren frustrierend Tag anzugehen.
Also duschte sie lange und heiß, um die letzten verbliebenen Lebensgeister in sich, am Leben zu erhalten. Etwas in ihr schien sich gegen die dadurch entstehende Entspannung zu wehren, da der Schmerz im Rücken eher an Intensität gewann anstatt abzunehmen. Mit brennender Haut, minimalisiertem Kreislauf und poröser Seele fasste sie den Mut, sich einem neuen Tag zu stellen.
Teil 4
Nachdem sie durch die Bus- und Bahnfahrt zu ihrem Arbeitsplatz zumindest ihren Kreislauf wiederhergestellt hatte, wurde das Brennen ihrer Haut tatsächlich immer intensiver. Sie fragte sich, ob sie irgendeine Unverträglichkeit entwickelt hätte. Diese müsste allerdings sehr unmittelbar aufgetreten sein, da sie aufgrund ihrer Psychosen ein sehr geregeltes, wiederkehrendes, fast schon statisches Leben führte. So gab es sicherlich seit Monaten keine nennenswerten Veränderungen in ihren Gewohnheiten, ihrer Nahrung oder den verwendeten Pflegemitteln. Allerdings erinnerte sie sich mit Grauen an ein analoges Phänomen ihrer frühesten Kindheit. Dieses wurde damals allerdings nicht medizinisch, sondern eher religiös behandelt. Da sie in einer sehr ländlichen, streng katholischen Region aufgewachsen war, hatte sich hier der Dorfgeistliche persönlich um sie gekümmert. Pfarrer David Lucchese war in dieser Zeit nicht nur derjenige, der ihr die physischen Schmerzen genommen hatte. Er hatte, seitdem, auch die Rolle ihrer beiden Eltern eingenommen. Ihren Vater hatte sie nie kennen gelernt. Der Bizarre Tod ihrer Mutter hatte dagegen unmittelbar die Schmerzen hervorgerufen. Melina selbst hatte sie als 7 Jährige im Keller des Hauses gefunden. Sie war mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen worden. Melina hatte bereits in diesen jungen Jahren die unglaubliche Menge Blut nicht in Einklang bringen können mit den sehr wahrnehmbaren aber nicht ungewöhnlich großen Wunden, die am Rücken ihrer Mutter festgestellt wurden. Außerdem hatte man sie post mortem verkehrt herum an eine Art improvisiertes Kreuz genagelt. Unzählige Kruzifixe und sonstige religiöse Gegenstände waren um sie herum drapiert gefunden worden. Niemand in ihrem Umfeld hatte ihr je die Umstände erklärt oder versucht, die Thematik mit ihr aufzuarbeiten. Besonders bewusste letztverbliebene Bezugsperson, legte größten Wert darauf, dieses Thema gar nicht erst aufkeimen zu lassen. Offiziell vermutete man einen rituellen Mord, der von dem damaligen Freund ihrer Mutter begangen worden sei. Ihn selbst hatte man kurz darauf im Wald erhängt, gefunden. Dieses Erlebnis hatte eine massive Wunde in ihrer Psyche und Seele hinterlassen und sie hatte daher auch keinerlei Erinnerungen an die Behandlungsmethode, die damals half diese quälenden Schmerzen im Rücken zu stoppen. Ihr war sehr wohl bewusst, dass diese sicherlich die Auswirkungen ihres Traumas kennzeichneten. Desto mehr wunderte sie sich, dass dies gerade jetzt auftrat. Ihr Leben war nicht das was sie sich erwünscht hatte, aber in Summe konnte sie sich doch immer wieder dazu erziehen, dankbar damit zu sein. Derzeit war nichts massiver oder intensiver als die letzten Monate und einigen Jahre davor. Sie wollte das erneute Auftreten dieser Schmerzen deshalb erst einmal nicht überbewerten und ging ihrer regulären Arbeit nach.
Teil 5
Bereits seit ihrer frühesten Kindheit fühlte sie sich dazu berufen, Menschen zu unterstützen, die das Schicksal mit einem dunkleren Blick der Dinge behaftet hatte. Im Zuge dessen hatte sie nach ihrer Schul-Ausbildung ein Studium begonnen und all ihre Energie dazu verwendet, eine außergewöhnliche Psychologin zu werden. Gerade auch weil sie selbst immer wieder in den Strudel der geistigen Verwundung gezogen worden war, maßgeblich betreffend ihrer Kindheitserlebnisse. Oftmals musste sie über ihre Entwicklung trotzdem schmunzeln. Gerade jene, die selbst massive Probleme hatten, entwickelten wohl tatsächlich eher die Begeisterung, gleich leidend gesinnten Menschen Gutes zu tun. Ihr Ziehvater hatte sie bei diesem Unterfangen stets und vehement mit all seiner zur Verfügung stehenden Kraft gefördert. Unzählige Male hatte er seine eigenen Aufgaben vernachlässigt um sie entsprechend zu unterstützen. Er hatte immer wieder betont, wie wichtig es ihm sei, dass sie eine mitmenschliche Rolle in ihrem Dasein ausfüllte. Dies hatte allerdings auch zur Folge, dass er bei den kleinsten, ethischen Verfehlungen, die in jungen Jahren selbstverständlich aufgrund von Unwissenheit, auch bei ihr, immer wieder auftraten, mit entsprechender Härte reagierte. Sie hatte ihm dies allerdings niemals übel genommen und die Dankbarkeit ihm gegenüber war tatsächlich grenzenlos. Mittlerweile war das Schmunzeln anlässlich des Hintergrundes ihrer Berufsentwicklung aber einer tiefen inneren Bitterkeit gewichen. Ihre Berufung, anderen Menschen zu helfen, war zur reinen Funktionalität und einem vorgeschoben Selbsterhaltungstrieb mutiert. Mit niemandem ihrer Patienten konnte sie sich noch identifizieren, geschweige denn ehrliches Mitgefühl entwickeln.
Sie reflektiert dies als eine gewisse Abgestumpftheit, die ihr wohl helfen sollte, ihren Job entsprechend professionell zu verrichten. Tatsächlich aber wusste sie, dass diese Bitterkeit und diese Egalität, sie mehr und mehr von Innen fraß und ihre ohnehin schon anfällige Seele zunehmend fragiler werden ließen. Ihre einstige Fröhlichkeit, Unbedarftheit, ihre Herzlichkeit und Ihre Offenheit wurde nun eingenommen von Selbstmitleid, mangelnder Selbstliebe, Angst und immer öfter tatsächlich auch Wut. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie die Materialisierung dieser Empfindungen förmlich in sich spüren konnte.
Als sie gegen 18:30 Uhr den letzten Patienten ins Arztzimmer rief und sich in ihr doch eine gewisse Vorfreude auf den Feierabend einstellte, bemerkte sie, dass das Brennen ihrer Haut nur noch im Bereich ihres Rückens wahrzunehmen war. Dort nun aber in einer tatsächlich extrem schmerzhaften Intensität, die nahezu einem frischen Wundschmerz glich.
Im Nachhinein konnte sie sich allerdings nicht vorstellen, dass sie sich von dieser Wahrnehmung so hatte einnehmen lassen, dass der Patient in dieser Art und Weise reagierte. Er hatte sich ihr gegenüber gesetzt und von seinen Sorgen, Nöten und Problemen berichtet und als er kurz davor war, in Tränen auszubrechen, fixierte er ihre Stirn, sprang auf und rannte angsterfüllt aus der Praxis. Seltsam, grade in diesem Moment hatte sie sich wieder etwas mehr verbunden gefühlt, zu sich selbst, zu ihren Patienten, zu Ihrer Berufung. Warum dies nun geschehen war, konnte sie sich nicht erklären, dachte dann aber auch nicht weiter darüber nach. Sie packte ihre Sachen zusammen, verabschiedete sich im vorbeigehen bei der Dame am Empfang, wünschte dieser noch einen schönen Abend und verließ die Praxis. Im Augenwinkel konnte sie auch im Blick ihrer Mitarbeiterin so etwas wie Furcht, oder zumindest massive Irritation feststellen.
Teil 6
Bis sie zu Hause angekommen war, hatte sich der Schmerz ihrer Schulterblättern so manifestiert, dass sie sich gezwungen fühlte, sich mit Tilidin zu helfen. Selbst 1 Stunde später konnte diese Tablettengabe allerdings keine Wirkung erzielen, und sie beschloss erneut, ihr Heil in einer warmen Dusche zu suchen. Sofort begann sich ihr Körper und vor allem ihr Geist zu entspannen. Während sie sich gedankenlos beregnen ließ, bildete sich an ihren Füßen eine Lache schaumigen Wassers, dass sich zunehmend verfärbte und immer dunkler wurde. Sehr unmittelbar wurde ihr klar, dass sie erneut irgendwo am Körper Blut verlor. Entsprechend der massiven Wasserfärbung musste es doch eine wesentlichere Wunde sein. Allerdings verspürte sie keinerlei Schmerzen, im Gegenteil, sie hatte sich den ganzen Tag nicht wohler gefühlt als jetzt in diesem Moment. Sie beendete das Duschen, tastete sich ab und bemerkte erneut ihren Nasenrücken als Quelle. Wiederum konnte sie keine Wunde ausmachen, und erst als sie sich vor den Spiegel stellte, erkannte sie, dass das Blut offensichtlich aus ihren Augen rann. Als sie das Spiegelbild näher betrachtete, war sie erfüllt von einer Mischung aus Mitleid und Angst. Allerdings blitzte auch etwas wahres, reines aus ihren Augen, dass im krassen Gegensatz zu den Blut unterlaufenen, dunklen, tiefen Augenringen stand. Sie benötigte zwei komplette Handtücher, um die Blutung endlich zu stoppen. Während dieses Vorgangs war der Schmerz aus dem Brücken schlagartig gewichen, und sie fühlte sich währenddessen angenehm leicht, frei und irgendwie gereinigt. Sie erinnerte sich erneut ihrer Kindheit und verurteilte sich selbst massiv dafür, dass ie vor ca. 2 1/2 Jahren den Kontakt zu ihrem Ziehvater abgebrochen hatte. Wie es zu diesem Zerwürfnis gekommen war, wurde mit vergehender Zeit immer weniger nachvollziehbar. Er hatte sie aufgrund einer für ihn inakzeptablen ethischen Verfehlung tatsächlich für mehrere Tage in die Kapelle der Kirche gesperrt, um die er sich seit seiner Rente in Urlaubsvertretung des hiesigen Pfarrers kümmerte. Sie hatte ihm beim Abendessen mehr oder weniger belanglos erzählt, dass man an sie herangetreten war um ein psychologisches Gutachten eines vermeintlichen Mörders anzufertigen. Sie hatte sich geweigert, was ihm zu dieser überzogenen Maßnahme verleitet hatte. Sie hatte ihm diese Aktion nicht verziehen, weil er ihren Versuchen ein klärendes Gespräch zu führen immer wieder ausgewichen war. So hatten sich zwei Menschen aus den Augen verloren, die das Schicksal doch so intensiv zu verschweißen vermocht hatte. Unmittelbar nachdem sich kein weiteres Blut mehr ergossen hatte, begann der Schmerz im Rücken von neuem nahezu unerträglich anzusteigen. Sie beschloss, um die Nacht einigermaßen zu überstehen, sich selbst ein leichtes Dormikum zu verabreichen. Sie konnte die Spritze gerade noch auf den Nachttisch legen und befand sich auch schon im Land, ihre quälenden Träume.
Teil 7
Im Dunst der vernebelten Wahrnehmung ihrer Sinne, hörte sie entfernte Geräusche, die tief in ihre Seele drangen. In einer Mischung aus Furcht und Befreiung vernahm sie eine Kakophonie unterschiedlichster heller Schreie und dunkler Drohungen wahr. Irgendwo dort in den Nebeln, schienen zwei schemenhafte Gestalten, miteinander zu ringen. Immer wenn die eine dachte, die Oberhand gewinnen zu können, brachte sich die andere in dieses blutige Spiel zurück. So schien dieser Kampf kein Ende nehmen zu können. Als die Nebel sich langsam zu lichten begannen, konnte sie zwei leblose Körper ausmachen, die in bizarrer Form über einander lagen. Eine der beiden erschien aus der Ferne, wie ein überdimensionierter Schmetterling, mit schwarz rot verklebten Flügeln. Dem anderen Körper fehlten offensichtlich beide Augen.
Teil 8
Als sie erwachte, war sie zuerst überrascht, da sie diesen doch ausgesprochen intensiven Traum völlig abgeklärt reflektieren konnte. Sie stand auf, fühlte sich so seltsam selbst bestimmt und irgendwie Herrin aller Lagen. Als der Schmerz in ihrem Rücken jedoch schlagartig so intensiv wurde, dass sie sich plötzlich erbrechen musste und ihr regelrecht schwindelig vor Augen wurde, war sie wieder zurück. Zurück in ihrem Leben der sich stetig nach innen fressenden Hilflosigkeit. Sie wusste sich nicht mehr zu helfen und kroch förmlich auf allen vieren in Richtung Handy. Dort angelangt wählte sie den Notruf und die endlos erscheinende Wartezeit, ließ sie förmlich den Verstand verlieren. Immer wieder hatte sie das Gefühl, für wenige Minuten das Bewusstsein zu verlieren und in diesen Phasen bildete sie sich ein, komplett schmerzfreie Abschnitte zu haben, in denen sie aber intensiv weinte. In diesem Zustand nicht mehr fähig die Realität aufzunehmen hatte sie das Läuten und Klopfen an der Haustür nicht bemerkt, so dass der Notarzt gezwungen war die Tür aufbrechen zu lassen. Es mussten einige Stunden vergangen sein, als sie in einem Bett liegend erwachte. War sie ins Krankenhaus eingeliefert worden ? Sie wusste nicht wo sie war und konnte außer dem weißen Bettlaken und dem frischen, warmen Blut dort, nichts wahrnehmen. Arme und Beine waren ihr am Bett festgeschnallt worden, auf dem Bauch liegend. Sie konnte daher auch nicht sagen, ob sie alleine im Zimmer war oder ob jemand in ihrer Nähe sie beobachtete. Was ihr aber bewusst war und sie beruhigte, war der Schmerz, der eben nicht mehr auszumachen war.
Teil 9
Als die Person, die neben ihr auf dem Stuhl saß und dessen Gesichtsausdruck einer versteinerten Maske im salzigen Regen glich, zu sprechen begann, entspannte sich Melina unmittelbar, um sich im nächsten Moment in einer Art spastischem Anfall komplett zu verkrampfen. Sie spürte wie etwas in ihr gegen etwas in ihr zu kämpfen begann, was gegen was, war ihr nicht klar und sie wollte es eigentlich auch nicht verstehen. Sie wollte nur… schmerzfreien Schlaf… ohne ein weiteres Erwachen.
David Lucchese streichelte ihr nun zärtlich über den Kopf und zitierte leise und monoton, offensichtlich Bibelverse. Man hatte ihn als nächsten Anverwandten informiert, in ihrem Organspender Ausweis hatte sie vergessen ihn zu entfernen… zum Glück. So konnten sich ihre Wege nun doch erneut und öffentlich zum richtigen Zeitpunkt erneut kreuzen.Die Texte waren ihr bekannt, weil sie diese doch über Wochen hinweg immer wieder aus seinem Mund hören musste als er sich ihr als 7 Jährige angenommen hatte. Sie wusste nur dass es Textstellen aus Luk. 11, 14 – 22 waren. Sie hatten ihr damals geholfen und sie hoffte sie würden es wieder tun. Sie verspürte das Verlangen, aufzustehen, ihn fest in die Arme zu schließen und einfach voller Dankbarkeit alles aus sich heraus zu weinen. Er erklärte ihr jedoch, sie müsse nun stark und geduldig bleiben, um wieder gesund zu werden. Zu diesem Zweck solle sie mit entsprechenden Pausen immer wieder in dieser Haltung auf dem Bett beobachtet und gesegnet werden. Was blieb ihr anderes übrig, außerdem war ihr bewusst, dass dieses Procedere schon einmal seine Wirkung getan hatte. Außerdem fehlte ihr jegliche Kraft um aufzulehnen. Sie blutete weitere aus den Augen und er kümmerte sich immer wieder darum, ihr das Gesicht zu säubern, ohne jedoch die Verse immer wieder von neuem zu wiederholen.
Teil 10
Sie schlief immer wieder ein und immer wenn sie erwachte hörte sie die gleichen Verse. Allerdings war die Stimme nun eine andere. Irritiert begann sie sich zu orientieren und Pfarrer Lucchese bemerkte dies sofort, strich ihr erneut über den Kopf und begann mit ihr zu sprechen, während sich die Worte im Hintergrund weiter wiederholten. Er erklärte ihr, er habe den Sohn eines befreundeten Pfarrers gebeten, ihm zur Seite zu stehen. Sie wechselten sich beim Lesen der Zeilen ab, so dass einer von beiden Ruhen konnte, während die Worte weiterhin den kleinen Raum erfüllten.
Sie blutete weiterhin aus den Augen, während sich die Schmerzen im Rücken komplett zurückgezogen hatten. Sie bat ihn inständig, ihr endlich zu erklären was eigentlich mit ihr geschehen sein, warum sie dies erneut erleben musste und er offensichtlich der einzige war, der ihr helfen konnte. Er haderte und es vergingen einige endlose Minuten, in denen nur das monotone Wiederholen der Textstellen wahrzunehmen war. Bis er endlich sein Schweigen brach und ihr erklärte, dass ihre Mutter während der Schwangerschaft mit ihr, mit einigen Freundinnen, an einer Rückführung teilgenommen hatte. Sie wollten Kontakt mit einigen Geistern ihrer verstorbenen Familienmitgliedern aufnehmen. Dabei kam es zu einem grauenvollen Vorfall im Zuge dessen 3 Freundinnen unmittelbar ums Leben gekommen waren. Sie starben während des Prozesses qualvoll schreiend, ohne jegliche fremde Einwirkung und die Autopsien hatten ergeben, dass sie alle 3, ohne jegliche äußere Anzeichen an ihren Körpern, innerlich verbrannt waren. Die verblieben beiden Teilnehmer waren ihre Mutter und deren beste Freundin. Diese war einige Wochen nach diesem Vorfall, in ihrer Wohnung, bei einem Unfall ums Leben gekommen. Es hatte den Anschein als hätte sie selbst versucht, sich mit einem Küchenmesser in den Rücken zu stechen, die Einstichwinkel und das Blut an ihren beiden Händen hatten unweigerlich diesen Schluss ergeben. Sie war letztendlich an den Wunden, die sie sich sehr wahrscheinlich selbst zugefügt hatte in ihrem Bad verblutet. Ihre Mutter war daraufhin lange in psychiatrischer Behandlung, durfte aber aufgrund ihrer Schwangerschaft keine Medikamente nehmen und deshalb hatten sich Pfarrer Lucchese und sein Sohn Marcello um sie gekümmert und herausgefunden, dass bei der Rückführung irgendetwas Böses aus einer Zwischenwelt den Weg in diese gefunden und sich in den Körpern der jungen Frauen eingenistet hatte. Sein Sohn und er hatten dies über viele Jahre bannen können, bis es dann doch einen Weg fand, Besitz von ihrer Mutter zu ergreifen. Sein Sohn hatte versucht ihre Mum zu retten und als er versagte, hatte er sich aus nackter Angst, Verzweiflung und Trauer im Wald erhängt.
Teil 11
Sie folgte seinen Worten, konnte den Inhalt aber nicht wirklich verstehen, sie wollte es nicht. Es war zu abwegig, zu grausam, zu subtil und zu nachvollziehbar. Diese Nachvollziehbarkeit löste eine Mischung aus Panik und Aufgabe in ihr aus. Einzig die Tatsache, dass sie seit einigen Stunden keine Schmerzen mehr verspürte gab ihr Hoffnung. Allerdings hatten während dieser schmerzfreien Zeit ihre Augen ununterbrochen leise vor sich hin geblutet. Offensichtlich war der Kampf in ihr noch nicht gewonnen aber eben auch noch nicht verloren.
Teil 12
Pfarrer Lucchese hatte sich für einige Zeit verabschiedet, er wollte Vorbereitungen für die nächste Phase treffen und im Zuge dessen benötigte er einige Utensilien aus der Kirche. Er hatte sich liebevoll und zuversichtlich verabschiedet und seinen Unterstützer strikt angewiesen, sie nachdem sie kurz losgebunden worden war um etwas zu trinken und sich etwas zu bewegen, sie wieder zu fixieren und die Texte weiterhin zu zitieren. Er hatte sich erst auf den Weg gemacht, als sie wieder in dieser unnatürlichen Position verharrte und ihr versprochen, er beeile sich, um so schnell wie möglich wieder bei ihr zu sein.
Teil 13
Als er nach gut 2 Stunden wieder das Haus betreten wollte, um sich auf den Weg in den 2 Stock zu machen, verspürte er eine unnatürliche Wärme im Haus. Ungewöhnlich für einen verregneten April Abend. Er blickte kurz nach oben und bemerkte einige schwarze Federn auf den Asphalt schweben.
Waren diese tatsächlich mit Blut beschmiert? Er beschleunigte die Schritte, da sich in ihm etwas zu sträuben begann. Mit der ihm maximal möglichen Geschwindigkeit erklomm er die Stufen und je näher er kam, desto lauter wurden die Verse, die nun in den Hausflur zu drängen schienen. Die Stimme hörte sich verfälscht an und die Lautstärke ließ darauf schließen, dass die Tür zur Wohnung geöffnet sein musste. Als er auf einer der Stufen ausrutschte und auf die linke Hand gestützt, diesen unverwechselbaren metallischen Geruch wahrnahm, spürte er das warme dunkle Blut an seiner Hand. Die einsetzende Trauer und Resignation nahm allen Raum in seinem Herzen und seiner Seele ein und er konnte förmlich nur noch in Zeitlupe weiter gehen.
Teil 14
Das Bild, dass sich ihm offenbarte, als er die Wohnung betrat, ließ seinen Atem erfrieren. Die unnatürliche Wärme die von den beiden Körpern ausging wurde von ihr fast gänzlich kompensiert.
Der Sohn seines Freundes lehnt in einer außerordentlich bizarren Form an der Wand. Seine Arme fast am Boden, als hätte man sie nach unten gezogen und als seien sie im Gewebe gerissen, unnatürlich lang.
Beide Beine in unnatürlicher Stellung nach hinten verwunden, als wären sie mehrmals um die eigene Achse gedreht worden. Er war sicherlich tot, obwohl er keine offenen Wunden hatte. Die Wärme die sein Körper abstrahlte, hatte die Wand versengt und es roch nach verbranntem Papier. Seine Ziehtochter Melina lag als eine Art Hülle auf dem Bett, es war mehr oder weniger nur noch ihre blutig transparente Haut zu sehen. Wie die leere Puppe einer Larve . Am
Rücken komplett aufgerissen, hier war die Quelle des Blutes, dass sich überall im Raum verteilt hatte. Melina’s Augen Bei genauerem Hinsehen erkannte er die Fußabdrücke im Blut und die schwarzen Federn, die sich überall am Boden verteilt hatten. Als unwirkliche Untermalung des subtilen Szenarios wiederholten sich die Verse Luk. 11, 14 – 22 monoton und gnadenlos. Sein Helfer hatte den Fehler begangen die Verse aufzusprechen und über sein Handy in Endlosschleife abspielen zu lassen, um sich etwas Erholung von der Tortur zu gönnen. Offensichtlich mussten diese direkt von einem Menschen wiedergegeben werden, um die weitere Entwicklung des Bösen zu hemmen und gleichzeitig den blutenden Augen die gewinnende Kraft zu ermöglichen.
Die Erholung sollte nur von kurzer Dauer sein, gefolgt von einem finalen und irreparablen Schmerz, der es dem Bösen letztendlich ermöglicht hatte, die Güte in Melina zu besiegen und sich auf die Suche nach neuen Wirten zu machen, um die eigene Lehre der inneren Leere weiter zu verbreiten. Pfarrer Lucchese kniete am Bett der leblosen Hülle von Melina, hinter ihm der bizarre Körper des Sohnes seines Freundes und er wusste er hatte versagt…abermals und unwiederbringlich !